Donnerstag, 18. Dezember 2014

„Stille Nacht, heilige Nacht“


Rußland, am Heiligen Abend 1946.

Im Lager der deutschen Kriegsgefangenen ist es still geworden. Todmüde von der schweren Arbeitsschicht im Kohlenbergwerk haben sich die meisten aufs Lager gestreckt, den schmutzigen Bergmannsanzug über den Kopf gezogen, damit man ja schnell hinüberschlummert ins Land der Träume — diese eine goldene Brücke zur Heimat.

Nur ein paar Unentwegte versuchen Weihnachten zu feiern. Ein paar Texte und halbfalsche Melodien alter Weihnachtslieder, das ist alles. Eine Grubenlampe wirft ihr unruhiges Licht in den weiten Raum, in dem heute so viel Heimweh und Sehnsucht schlummern.

Da wird plötzlich die schwere Riegeltür aufgerissen und das von den Kriegsgefangenen am meisten gefürchtete Kommando versetzt alle in die harte Gegenwart zurück:

„Das ganze Lager antreten!“

Wahrscheinlich ein üblicher Zählappell mit stundenlangem Warten in der Kälte.

Von den Wachtürmen suchen Scheinwerfer die in Reih’ und Glied stehenden, frierenden Gestalten ab. Wache und Lagerkommandant, in Mantel und Pelz gehüllt, treten vor. Ein Dolmetscher wird zum Kommandanten gerufen. Satz für Satz übersetzt er ins Deutsche, dass es alle verstehen können: „Kriegsgefangene! In eurer deutschen Heimat wird heute von Reaktionären ein Fest gefeiert, das zwei Tage dauert. In der Sowjetunion hat man keine Zeit zum Feste feiern. Da wird gearbeitet zum Wohle aller Proletarier der Welt, damit für sie bald die Befreiungsstunde schlage. Darum singt jetzt, zum Zeichen eurer Verbundenheit mit allen Werktätigen die ,Internationale‘.“

Schon beginnt der Dolmetscher vorne:
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde ... “ Und die tausend Gefangenen schweigen; im Hintergrund beginnt einer ein anderes Lied, einige singen mit, erst zaghaft:
„Stille Nacht, heilige Nacht...“ dann aber stimmen alle ein, voll und kräftig. Die erste Strophe ist beendet. Der Dolmetscher wiederholt eben den Schluss der „Internationale“: „Völker, hört die Signale ... “, da erklingt wie ein Trotzlied die andere Strophe des „Stille Nacht“, und die letzten Worte singen — nein, rufen tausend Mann in die geheimnisvolle Nacht: „Christ, der Retter ist da, Christ, der Retter ist da.“
Das klingt wie ein begeistertes Glaubensbekenntnis und dringt hinaus durch den dreifachen Stacheldrahtzaun, hinein in die endlose russische Steppe.

Dann herrscht atemberaubende Stille. Der Kommandant richtet an den Dolmetscher eine Frage. Die Antwort erklingt laut: „Das war die ,Internationale‘ nach deutscher Melodie.“


(Bericht von einem, der dabei war und mitgesungen hat)



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